Saara Folini

«Das Herz wird nicht dement»

Momente tiefer Verbundenheit, authentische Begegnungen und ab und zu ein Rauswurf: Die Heiliggeist-Pfarrerin und Heim-Seelsorgerin Saara Folini spricht über ihre Arbeit mit Menschen mit Demenz.

Als Seelsorgerin im Domicil Schönegg und im Domicil Monbijou arbeiten Sie auch mit Menschen mit Demenz. Was machen Sie genau?

Saara Folini: Ich feiere mit den Menschen Gottesdienste und betreue sie seelsorglich. Die Seelsorge gestaltet sich sehr unterschiedlich. Viele Begegnungen ergeben sich spontan während meines Besuchs. Mit einigen Menschen treffe ich mich aber regelmässig. Zudem arbeite ich eng mit den Mitarbeitenden zusammen, die für die Aktivierung zuständig sind. Sie sagen mir, ob jemand trauert, etwas zu feiern hat, «schwierig» ist oder gar im Sterben liegt. Ein wichtiges Arbeitsinstrument für uns ist das Indikationenset für Spiritual Care und Seelsorge, bei dessen Ausarbeitung ich mithelfen durfte. Es unterstützt uns dabei zu erkennen, ob jemand Bedarf an Seelsorge haben könnte.

Wie gehen Sie konkret vor?

Ich gehe bei der Person vorbei und höre zu. Mit Fragen und Vorschlägen finde ich heraus, wie sie sich fühlt oder ihr gut täte. Je nachdem, wie viel von der biografischen Geschichte bekannt ist, kann ich Bezug nehmen auf Hobbys oder Bücher. Letzte Woche zum Beispiel besuchte ich eine 97-jährige Frau. Sie lag im Bett und war traurig, weil eine Mitbewohnerin gestorben war, mit der sie immer spazieren gegangen war. Da die Sonne schien, schlug ich ihr vor, nach draussen zu gehen. Die Frau lehnte dies ab, da es ihr nicht gut ging. Im Zimmer sah ich einen Brief der Wanderwege. Ich fragte die Frau, ob sie früher wandern gegangen war. Ihre Augen fingen an zu leuchten. An diesem Licht hielt ich fest. Da wir nicht wandern gehen konnten, fragte ich die Frau, ob sie unterwegs Wanderlieder gesungen hatte. Sie bejahte, und wir sangen zusammen einige Lieder.

Welche Rolle spielen Musik und Lieder bei der Arbeit?

Für mich sind sie sehr wichtig, denn meine Eltern sind beide Berufsmusiker und ich singe und musiziere sehr gerne. Damit kann ich gut bei der Generation anknüpfen, die jetzt hochaltrig ist, denn diese Menschen haben in ihrer Jugend viel gesungen. Im Unterricht mussten sie Kirchenlieder auswendig lernen. Die Erinnerungen daran sind für manche nicht nur schön, aber sie können die Lieder immer noch. Bei meinen Besuchen in den Heimen bringe ich deshalb immer das reformierte Gesangsbuch, das Liederbuch «Freut euch des Lebens» von Pro Senectute sowie Musik mit, mit der die individuellen Playlists der Bewohnerinnen und Bewohner erweitert werden. Beim gemeinsamen Singen entsteht sofort eine Gemeinschaft. Wenn diejenigen, die sich eigentlich nicht mehr an den Text erinnern, ab der fünften oder sechsten Strophe auf einmal doch mitsingen und ihre Augen zu leuchten beginnen, ist dies ein wunderbarer Moment. Die Lieder helfen den Menschen, ihre Gefühle auszudrücken, selbst wenn ihnen die Sprache dafür fehlt. Ein Buchtitel sagt dies sehr schön: «Das Herz wird nicht dement.» Wenn Menschen in Liedern oder Texten ein Stück Heimat finden, sind sie für einen Augenblick nicht mehr verloren oder desorientiert.

Welche weiteren Möglichkeiten gibt es, um eine Gemeinschaft entstehen zu lassen?

Wenn mehrere Menschen mit Demenz bei meiner seelsorglichen Arbeit anwesend sind, entsteht die Gemeinschaft manchmal unter ihnen selbst. Es gibt zwei Frauen, die lernen sich meist gerade neu und auf eine sehr herzliche Art kennen, wenn ich komme. Sie verstehen sich sogar viel besser als ich sie. Das irritiert mich manchmal ein wenig, denn ich bleibe trotz meiner ausgefeilten Gesprächstechniken aussen vor. Die Gemeinschaft entsteht aber auch in den Gottesdiensten. Die christliche Religion hat einen Reichtum an Ritualen, an die ich anknüpfen kann. Eine grosse Rolle spielt alles Sinnliche, da die sprachlichen Werkzeuge je nach Form der Demenzerkrankung nicht mehr greifen. Ich segne und salbe die Menschen deshalb oft mit einem fein duftenden Öl oder bringe frisch gebackenes Brot oder Blumen mit. Meist habe ich zudem ein Kreuz aus Olivenholz dabei, das die Menschen in den Händen halten können.

Der vollständige Beitrag erschien im Juli 2021 in der Zeitung reformiert.