Dorothea Isa Murri, Leiterin der Beratungssstelle Leben und Sterben

«Tot sein kann ich noch lange»

Die ehemalige Frieden-Pfarrerin Dorothea Isa Murri leitet die neue Beratungsstelle Leben und Sterben. Im Interview spricht sie über ihre Begleitung von Menschen in Ausnahmesituationen, ihre Haltung und ihre persönlichen Erfahrungen.

Leben und Sterben: Das sind grosse Themen. Was machen Sie konkret?

Dorothea Isa Murri: Ich begleite und berate Menschen, bei denen sich Fragen zum Lebensende stellen. Dies sind meist Menschen, die entweder wissen, dass sie selbst bald sterben werden, oder die einen nahestehenden Menschen verlieren oder bereits verloren haben. Mit manchen suche ich nach Antworten darauf, was nach dem Tod kommt. Viele Sterbende beschäftigen sich damit, ob sie ihr Leben gut gelebt haben. Auch bei diesen Erkundungen wirke ich als Begleiterin. Dabei lasse ich mich auf die Sicht meines Gegenübers ein und stülpe ihm oder ihr nicht meine eigenen christlichen Überzeugungen über. Viele Menschen haben eine diffuse Angst davor, dass mit dem Tod eine Abrechnung kommt. Das erlebe ich erstaunlicherweise selbst bei Menschen häufig, die nicht mehr Mitglied der Kirche sind. Schuldgefühle sind ebenfalls weit verbreitet, sei es bei den Sterbenden beziehungsweise Sterbewilligen oder bei Angehörigen, die ein Familienmitglied oder einen Freund durch Suizid verloren haben. Die Angehörigen treibt oft die Frage um, ob sie etwas hätten merken sollen, ob sie etwas falsch gemacht haben. Ungesagtes belastet sie. Mit der Beratungsstelle helfe ich so auch beim Weiterleben.

Sie haben die Suizidbegleitung angesprochen. Welche Haltung haben Sie dazu?

Ich wünsche mir für mich selbst, dass ich die Kraft haben werde, das Leben bis ganz zum Schluss auskosten beziehungsweise aushalten zu können. Ich möchte alles, was mir das Leben an Erfahrung bietet, bewusst erleben: Die Freude und die Trauer, die Lust und den Schmerz. Zugleich beruhigt mich das Wissen, dass es Sterbehilfeorganisationen gibt. Ich fürchte mich vor elenden Schmerzen und vor grossem Leiden, dessen Ende nicht absehbar ist. Gleichzeitig hoffe ich, dass ich diese Option hoffentlich nie in Anspruch nehmen muss. In der Beratungsstelle geht es jedoch nicht um mich, sondern um die Menschen, die zu mir kommen. Es sind alle willkommen, unabhängig von ihren religiösen Ansichten und ihrer Kirchenzugehörigkeit. Entscheidet sich jemand für den assistierten Suizid, frage ich allerdings nach den Gründen. Oft plagt Menschen, die mit assistiertem Suizid ihre Lebenszeit verkürzen wollen, der Gedanke, dass sie ihren Angehörigen oder dem Pflegepersonal zur Last fallen. Es sind vielfach Menschen, die ihr Leben lang anderen geholfen haben und es jetzt nicht ertragen, selbst auf Hilfe angewiesen zu sind. Im Gespräch findet zuweilen ein Sinneswandel statt.

Wie unterstützen Sie Frauen, die wegen einer Abtreibung Schuldgefühle haben?  

Ich lasse die Frauen über ihre Gefühle erzählen und frage nach den Umständen, die zum Entschluss führten, eine Abtreibung durchzuführen. Meistens sahen die Frauen keinen anderen Ausweg. Wenn die Frauen realisieren, dass sie damals zu wenig Ressourcen und Lebensperspektiven hatten, um eine andere Wahl zu treffen, können sie sich selber vergeben. Wenn Gott mit ins Spiel kommt, dann spreche ich von meiner Überzeugung, dass Gott uns noch viel besser versteht als wir uns selber. Wie könnte er uns verurteilen, wenn er doch die Not kennt, die zu einer Abtreibung geführt hatte. Ich glaube, dass jedes Lebensende auch ein Neuanfang ist. Deshalb stelle ich mir vor, dass eine Abtreibung auch ein Neuanfang für das Ungeborene und für seine Mutter ist. Damit will ich Abtreibungen nicht klein reden. Im Gegenteil: Eine Abtreibung hat meistens körperliche und seelische Nebenwirkungen.

Was ist das Schönste an Ihrer Arbeit?

Menschen, die mit dem Tod und mit der Endlichkeit ihres eigenen Lebens oder des Lebens eines geliebten Menschen konfrontiert werden, sind existentiell betroffen. Sie begleiten zu dürfen, berührt und bereichert mich zutiefst. Richtig glücklich macht mich, wenn Menschen angesichts des Todes Versöhnung finden mit sich und ihren Mitmenschen. Wenn sie Frieden mit ihrem Schicksal schliessen, auch wenn sie gehen müssen oder jemanden gehen lassen müssen. Gelangt man an einen Punkt, an dem man von aussen nichts mehr verändern kann und man einverstanden mit der eigenen Ohnmacht ist, dann passiert eine Veränderung in einem drinnen. Das hat mit Hingabe zu tun. Wer sich voll auf das Leben einlässt, wie es sich jetzt gerade zeigt, der lässt sich vom Leben richtiggehend knacken. Dort, wo ich mich habe knacken lassen, hat das, was ich Gott nenne, eine Chance, mich zu berühren. Ich ahne dort die Gegenwart von Christus, der uns das Vertrauen in die Kraft, die uns trägt und die bedingungslose Liebe vorgelebt hat.

Als Pfarrerin führten Sie über 320 Beerdigungen durch und organisierten zwei Podien, an denen Sie über Ihre Erfahrungen mit dem Tod sprachen. Sterben scheint etwas zu sein, das Sie fasziniert. Wie kommt das?

Als Kind hatte ich zweimal ein Nahtoderlebnis. Beim ersten Mal wurde ich von einer Dachlawine begraben. Im Jahr darauf brach ein riesiges Iglu über mir zusammen. Das Aufwachen aus der Bewusstlosigkeit und das Wiedereintreten in meinen Körper fand ich in beiden Fällen sehr schade. Wahrscheinlich entwickelte sich daraus eine Faszination für den Tod. Später machte ich eine Ausbildung in körperzentrierter Traumatherapie, um als Pfarrerin die Menschen nach schlimmen Todesfällen noch besser betreuen zu können. Dank ihr traue ich mir zu, alle emotionalen Ausbrüche aufzufangen, die im Trauergespräch hervorbrechen können. In einer Weiterbildung für Traumatherapeuten wurden die Teilnehmenden an ihre eigenen Nahtoderlebnisse herangeführt. Ich erinnere mich, dass ich in einen tiefen Ozean tauchte. Dort bestand keine Notwendigkeit mehr, zu atmen. Ich erlebte dies grösstmöglichen Frieden und unglaubliche Freiheit.

Wie wirkt sich die Beschäftigung mit dem Tod auf Ihr eigenes Leben aus?

Das Wissen, dass mein Leben endlich ist, macht es umso kostbarer. Unser Tod kommt garantiert, und er kann jederzeit eintreffen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es doch sinnvoll, das Leben als einmalige Reise zu betrachten und es möglichst auszukosten. Ich glaube, dass mir das gelingt. Und ich tauche auch in die dunklen Seiten ein, lasse sie zu und weite meinen Geist und mein Herz. Tot sein kann ich noch lange.

Interview: Karin Meier
Bild: Béatrice Devènes